Dirk, mein Gesprächspartner, redet sich anfangs März 2022 in Rage:
«Dieser Selenski ist ein verantwortungsloser, grössenwahnsinniger Ignorant! Er hätte am ersten Kriegstag sofort kapitulieren sollen, dann hätten wir jetzt alle Ruhe. Putin will ja nur das ursprüngliche russische Imperium wieder zusammenführen. Die Ukraine gehörte doch einmal zu Russland, oder nicht? Die sprechen ja alle Russisch. Jetzt lässt dieser Kabarettist sein Volk abschlachten und die ganze Infrastruktur zerbomben. Und wir hier im Westen wissen nichts Besseres zu tun, als ihn zu unterstützen – sogar mit Waffen.»
Ich bin völlig überrumpelt von den vielen abstrusen Äusserungen und seiner Wut. «Was für ein Humbug!», platzt es beinahe aus mir raus. Aber ich kann mich gerade noch beherrschen – so will ich nicht debattieren. Doch wie und womit soll ich Paroli bieten, ohne ihn noch mehr in Rage zu versetzen?
Ich überlege, welche seiner Aussagen mich am meisten stört. Die Schuldzuweisung an Selenski? Die Forderung nach einer Kapitulation? Putins angebliches Recht auf die Ukraine? Europas Parteinahme? Ich entscheide mich für die scheinbare Legitimation. Bei diesem Thema fühle ich mich einigermassen sicher.
Ich wende mich an Dirk: «Wenn ich dich richtig verstanden habe, bist du also der Meinung, dass Putin das Recht hat, über das Schicksal der Ukraine zu bestimmen. Darf ich fragen, wie du zu dieser Meinung kommst?
Dirk: «Ach was! Es geht hier doch gar nicht darum, ob er ein Recht auf die Ukraine hat oder nicht! Der ist durch nichts zu stoppen. Ich weiss doch genau, wie der Russe funktioniert, wenn er etwas unbedingt will. Schliesslich bin ich in der DDR aufgewachsen und habe im Wehrdienst an Manövern mit Russen teilgenommen. Wenn einer von denen Schwäche zeigte, dann wurde er von den eigenen Leuten windelweich geklopft. Die sind knallhart. Da lohnt sich kein Widerstand.»
Ich: «Also besser einlenken und kapitulieren auf der ganzen Breite?»
Dirk nach einer kurzen Pause: «Ja und nein. Ich verstehe deine Bedenken. Aber in diesem Fall – da bin ich mir sicher – ist militärischer Widerstand wirklich zwecklos. Denk doch an Tschetschenien!» Im weiteren Verlauf des Gesprächs vertritt Dirk vehement eine in seinen Augen durch und durch pragmatische Sicht: Er glaubt weder an eine militärische Chance der ukrainischen Armee noch an eine mögliche wirksame Unterstützung durch die NATO. Ich dagegen plädiere für jeden Versuch, Putin zu zeigen, dass ihm sein brachiales Vorgehen letztlich nur schadet. Der Tonfall aber hat sich gewandelt: Wir hören einander besser zu und wägen unsere Erwiderungen länger ab. Jeder hat seine Überzeugungen und seine Einwände.Zum Schluss einigen wir uns darauf, dass wir beide eigentlich viel zu wenig wissen und verstehen, als dass wir eine valide Prognose stellen können. Das Gespräch hat bei beiden mehr Fragen als Antworten erzeugt.
Unsere Debattiertipps: Fragen statt kontern!
Wenn ein Streitgespräch allzu emotional zu werden droht (worunter Sachlichkeit und Fairness leiden), schalten Sie in den Fragemodus. Jedes weitere Gegenargument oder jede (vermeintliche) Richtigstellung eines Sachverhalts verhärtet nur die Fronten. Achten Sie dabei auf Folgendes
– Stellen Sie echte Fragen – keine rhetorischen und keine desavouierenden. So zeigen Sie Ihr Interesse an der Aussage Ihres Gegenübers, ohne sie von vornherein zu negieren
– Fragen Sie nach den Beweggründen hinter der Meinung Ihres Gegenübers. Es geht dabei nur um das Verstehen und nicht um das Teilen der Meinung. Vielleicht lernen Sie dabei auch eine neue Sichtweise auf die Thematik kennen, die Sie noch gar nicht bedacht haben
– Nutzen Sie Fragen, um das Gespräch inhaltlich in neue Bahnen zu lenken. So können Sie –ganznebenbei – Argumente und Themen ins Spiel bringen, die Ihnen wichtig ist.
– Und zu guter Letzt: C’est le ton qui fait la musique! Behalten Sie stets einen sachlichen und respektvollen Ton.
Autor: Charly von Graffenried